Didaktik steht auf der Agenda
30.03.2020 7 Minuten LesezeitBei den angegeben Links handelt es sich um externe Links.
Didaktik steht auf der Bildungsagenda ganz oben.
Didaktik ist die Basis aller Trends, an ihr muss sich alles messen lassen - Inhalte, Methoden, Medieneinsatz, Werkzeuge. Die Vielzahl von didaktischen Theorien und Modellen verdeutlicht die unterschiedlichen Ansätze und auch das Potential.
Didaktik ist die Klammer, die die Weiterentwicklung von Bildungsprozessen und Schulentwicklung basierend auf den bisherigen Entwicklungen reflektiert ermöglicht.
Das konstruktivistische Verständnis von Bildung hat Didaktik, als die Kunst des Lehrens, mit Mathetik, der Kunst des Lernens, verbunden.
George Siemens unterstreicht mit der Theorie des Konnektivismus bereits 2005, dass das individuelle Konstruieren eines subjektiven Bildes der Umwelt in der Zeit der Netzwerkgesellschaft, also unter den Bedingungen der Digitalität, nicht ohne Austausch funktioniert.
Verknüpfung ist das Zauberwort der Netzwerke - Verknüpfung von Wissen über persönliche Lernnetzwerke - um sich neue Wissensbestände und Zusammenhänge zu erschließen, aber auch um sie wieder kuratiert zu teilen und dadurch selbst zum Netzwerkknoten zu werden.
Der Konnektivismus ist nicht nur eine neue, sondern DIE zeitgemäße Lerntheorie, die didaktischen Überlegungen zu Grunde liegen sollte.
Bedeutung einer neuen Didaktik
Die Corona-Krise legt Schwächen der Institution Schule offen - zeigt, was nicht zeitgemäß ist.
Wie durch ein Brennglas werden durch die Krisensituation Versäumnisse offensichtlich. Bildung als Teil der Gesellschaft ist Veränderungen unterworfen und muss sich diesen anpassen. Hier wurde bisher aus unterschiedlichen Gründen nicht oder zu langsam reagiert. Anpassung fand kaum oder nur schleppend statt, man war eher auf Erhalt des Status Quo aus und der Fokus lag darauf, vermeintlich gut funktionierende Strukturen und Inhalte beizubehalten.
Die Digitalität als ubiquitäres Prinzip auch der Bildung kann nicht länger ignoriert werden. Lernen und Lehren - wohlgemerkt beides - MUSS in Netzwerken stattfinden. Sonst ist Lernen und auch Lehren nicht mehr vollumfänglich möglich.
Dem mit der Informationsgesellschaft in Zusammenhang stehende Leitmedienwechsel, von Beat Döbeli Honegger in seinem Buch “Mehr als 0 und 1” ausführlich dargelegt, muss in Bildungsprozessen Rechnung getragen werden.
Durch #COVID19 ausgelöst, befinden wir uns alle in einer Ausnahmesituation. Meist unvorbereitet und in den seltensten Fällen gut dafür ausgestattet, versuchen nun viele Lehrende sofort vom bisherigen fast analogen Schulalltag auf “remote learning” oder “distance learning” umzuschalten.
Das dies nicht möglich ist, wurde allen klar. Und es war denen, die sich mit digitaler Bildung schon länger beschäftigen, schon im Vorfeld klar.
Ich möchte hier nicht aufzeigen, warum das nicht funktioniert, sondern eher darauf fokussieren, was jetzt notwendig ist.
Was wir brauchen, ist ein Verständnis dafür, dass sich die Bedingungen geändert haben und es nicht mehr möglich ist, didaktisch so vorzugehen wie bisher.
Was wir nicht mehr haben:
-Schüler:innen. die in Klassenräumen vor Lehrer:innen sitzen und auf Anweisungen warten
-eine Schulklingel, die die Stundentaktung vorgibt
-den Wechsel von Unterrichtsfächern
-einen Pausenhof als sozialen Interaktionsraum für Schüler:innen
-ein Lehrer:innenzimmer als Treffpunkt für Austausch
-Kontrolle über das Verhalten der Schüler:innen
-althergebrachte Bewertungsverfahren wir Kurzkontrollen, Tests, Klassenarbeiten
Lernen und Lehren finden in digitalen Räumen statt, die ganz anderen Bedingungen unterliegen als der physische Raum in der Schule.
Dies in die Digitalität übertragen zu wollen, führt bestenfalls zu einer gewissen Komik:
Kleiderordnung als Ausdruck der äußeren Disziplinierung? Gegenfrage: Wirkt sich im Homeoffice die Jogginghose des Lehrenden negativ auf den produzierten Content aus?
Sowohl die Unmenge an Arbeitsblättern, die Schüler:innen sich zu Hause ausdrucken und dann bearbeiten sollen als auch die enorm angestiegenen Nachfragen nach Tools zeigen, dass viele Kolleg:innen versuchen, die Struktur des herkömmlichen Unterrichts in den digitalen Bereich zu übertragen.
Das wird nicht funktionieren. Elearning benötigt andere Abläufe, Strukturen, Methoden und Mittel.
Und “digitale Schule” braucht auch ein anderes Verständnis von sich selbst als Institution und der Aufgabe der Lehrpersonen. Schule muss sich selbst als Institution begreifen, die Bildungsabläufe organisiert und Lehr-Lernprozessen unterstützt. Im Vordergrund darf nicht die reine Wissensvermittlung stehen, sondern Kompetenzerwerb muss ermöglicht werden. Dies kann nur in einem sozialen, kollaborativen Raum geschehen, der die Bedingungen dafür bietet.
Zu diesen Bedingungen zählen im 21. Jahrhundert digitale Medien und Devices, Plattformen, globale Netzwerke, Teamarbeit und Netzwerkkultur.
Schule muss zu einem Ort werden, der das leisten kann.
Dies sollte uns allen gerade in dieser Zeit, die Spielräume für Veränderungen nicht nur eröffnet, sondern sie geradezu einfordert, bewusst sein.
Was wir brauchen:
-abrufbare, offene Angebote (OER)
-flexible Gestaltung von Lerngruppen
-projektorientierte Unterrichtsthemen, die Schüler:innen -Freiräume bei der Bearbeitung lassen (Zielformulierung, Wahl der Methoden- und Präsentationsformen, …)
-fächerverbindende Themen, die auch außerschulische Partner einbeziehen
-verpflichtende Zeit für Netzwerkarbeit und Fortbildungen für Lehrer:innen
-begleitende ePortfolio-Arbeit statt Tests und Prüfungen
Was Schule und Lehrer:innen nicht leisten können: eine Garantie für das Lernen der Schüler:innen geben.
Dies ist und bleibt ein individueller Prozess, der durch Netzwerke initiiert und unterstützt wird (siehe Konstruktivismus und Konnektivismus).
Aber das ist auch der Trugschluss vieler an Bildung Beteiligter in der heutigen Zeit, die Anwesenheit in der Schule mit Lernen und den Schulbesuch als Lernprozess mit erfolgreichem Abschluss gleichzusetzen.
Hier ist ein Umdenken dringend erforderlich und gleichzeitig die Basis für eine neue Didaktik - ein neues Verständnis für die Kunst des Lehrens.
blended or fluide didactics
Auch wenn im Moment, gezwungen durch #COVID19, Bildung im remote Modus abläuft, wird doch überdeutlich, dass Lernprozesse nicht an den physischen Ort Schule mit den bisher etablierten Strukturen gebunden sind, aber doch an den persönlichen Austausch und die Interaktion.
Gerade die Beziehungsebene, die individuelle Ansprache, Empathie und Verständnis durch die Lehrperson ist das, was Lerner stark beeinflusst, und Auswirkungen auf viele weitere Bereiche hat. Die untenstehende Abbildung aus “Lernen sichtbar machen” von John Hattie zeigt den großen Effekt der Lehrer-Schüler-Beziehung.
Aber nicht nur die Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden ist von großer Bedeutung. Auch die Facetten der Interaktionen in einer Peer-Group haben entscheidenden Einfluss auf Lehr-Lernprozesse.
In den Zeiten der jetzigen Krise wird deutlich, dass den Schüler:innen auch der Kontakt untereinander fehlt. Es zeigt sich, dass digitale Medien, obwohl ihnen das von ihren Kritikern immer wieder nachgesagt wird, Face-to-Face-Kommunikation nicht ersetzen.
Kindern und Jugendlichen setzen die verschiedenen Arten der Kommunikation bewusst ein - themen- und adressatenbezogen, als Ergänzung.
Nun, da ihnen die Ebene der realen Treffen genommen wurde, zeigt sich, dass die Kommunikation mit Hilfe der digitalen Kanäle innerhalb ihrer jeweiligen Gruppe zwar gut funktioniert, aber als nicht ausreichend empfunden wird.
Didaktik, als Kunst des Lehrens, und Mathetik, als Kunst des Lernens, können sich vor den dominierenden Methoden und Werkzeugen des digitalen Workflows nicht mehr verschließen.
Die Aufgabe der Didaktik ist es, ein für das Lehren und Lernen optimales, aber auch flexibles Konzept bereitzustellen, dass entsprechend den Erfordernissen unterschiedliche - sowohl analoge als auch digitale - Methoden, Medien und andere Unterstützungsstrategien anbietet.
Lehrpersonen wiederum müssen in der Lage sein (dafür zu sorgen, ist Aufgabe der Lehrer:innenbildung), dieses Wissen kompetent einzusetzen.
Eine Didaktik, die den neuen Anforderungen unter den Bedingungen der Digitalität entspricht und sich diese in den Lehrprozessen zunutze macht, ist nie eine “digitale” Didaktik.
Der Einsatz digitaler Konzepte und Tools muss als Erweiterung verstanden werden - Erweiterung der Möglichkeiten des Handelns, des Zusammenarbeitens, der Themen- und Methodenvielfalt.
Nur eine Lehrperson, die sich des ihr zur Verfügung stehenden Potentials bewusst ist, kann dieses nutzen, entsprechend auswählen und adäquat einsetzen, den Einsatz reflektieren und evaluieren und weiterentwickeln. Diese umfangreiche Aufgabe ist auf Grund des fast unüberschaubaren Angebots an Werkzeugen und Konzepten, aber auch wegen der rasanten Veränderungen in diesen Bereichen nicht allein zu bewältigen. Hier greift wieder der Netzwerkgedanke.
Worauf es ankommt!
-inhaltliche Aufbereitung und Gliederung der Inhalte (Angebotsvielfalt)
-Beziehung/Relevanz des Inhaltes für Lernende beachten
-Ermöglichen und Sichtbarkeit/Anerkennung von Lernfortschritten (steigende Relevanz von Feedback)
-Kommunikation und Kollaboration als Grundlage jeglichen Lernens - Kanäle einrichten, Kommunikation voranbringen, unterstützen, lenken
-Organisation von kollaborativen Lernangeboten
-Eigenverantwortung/Selbstorganisation der Lernenden stärken
Und in keinem Fall: ein Weiter so wie bisher!
Wir müssen die Krise als Chance nutzen - deshalb noch einmal Andreas Schleichers Worte vom Beginn: