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Digitalisierung, digitale Transformation, Digitalität

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Digitalisierung und Schule, nicht Digitalisierung gegen Schule -

das ist meiner Meinung nach das grundlegende Verständnis, um Schulentwicklung im 21. Jahrhundert erfolgreich anzustoßen, zu begleiten und zu unterstützen.

Digitalisierung verändert einerseits Gesellschaft, das soziale Leben und damit auch die Bildung und im Besonderen die schulischen Prozesse tiefgreifend. Andererseits wird auch unser Verständnis von Gesellschaft, sozialem Zusammenleben und Bildung verändert. (vgl. Marres, 2017)

Es ist 2021 nicht die Frage, ob digitale Medien, Konzepte und Werkzeuge in schulischen Lehr-Lernsituationen eingesetzt werden sollen oder nicht. Diese Frage hat die Realität geklärt. Die Kultur der Digitalität (vgl. Stalder, 2016) ist in der Gesellschaft angekommen - vielleicht noch nicht von allen akzeptiert, längst nicht überall mit offenen Armen willkommen geheißen und oft genug mit Vehemenz zurückgedrängt. Aber Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Und es ist besser, Entwicklungen zu gestalten, als nur auf sie zu reagieren.
Dieser zukunftsorientierte Gestaltungswille (nicht Verwaltung des Bestehenden) sollte die Basis von Schulleitungshandeln sein.

Im Schulbereich wurde bisher bezüglich Digitalisierung wenig umgesetzt. Technische Grundlagen für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht fehlten und fehlen häufig immer noch.

Deshalb kurz zur Begriffsklärung und Abgrenzung von Digitalisierung und digitaler Transformation:

Digitalisierung

Digitization - die Kodierung von analogen Informationen in 0 und 1 - ermöglicht es, analoge Informationen zu speichern, zu verarbeiten und zu übertragen. Durch den Einsatz dieser auf digitization basierenden Technologien und digitalisierten Daten verändern sich Arbeitsprozesse. Vor allem im Bereich von Information und Kommunikation findet durch die Anwendung digitaler Technologien und Informationen eine radikale Umgestaltung statt. Diese Veränderung in den Arbeitsprozessen bezeichnet man als Digitalisierung, deren Fokus auf der Optimierung der Prozesse innerhalb eines Systems liegt (vgl. Bloomberg, 2018).

Digitale Transformation

meint alle Digitalisierungsprozesse, die auf den strategischen Wandel der jeweiligen Organisation ausgerichtet sind (vgl. Bloomberg, 2018). Die im schulischen Bildungsbereich bisher fehlenden oder jetzt mühsam und langsam nachgeholten Digitalisierungsprozesse (die sich teilweise immer noch im Anfangsstadium befinden) fehlen somit als Grundlage für die so dringend notwendige digitale Transformation im Bildungsbereich. Notwendig, ja überfällig ist dieser Transformationsprozess, damit Schule das selbst ausgerufene Bildungssystem- und Erziehungsziel erfüllen kann:

“Insbesondere hat jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf sein Geschlecht, seine Herkunft, seine Ethnie, eine Behinderung, seine sexuelle Identität, seine Religion oder Weltanschauung oder seine wirtschaftliche oder soziale Lage das Recht auf eine seine Begabungen, seine Fähigkeiten und seine Neigung fördernde Erziehung, Bildung und Ausbildung. Das schließt die Vorbereitung auf die Wahrnehmung von Verantwortung, Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft ein.” (SchulG LSA §1)

"Die Vorbereitung auf die Verantwortung ..." Um die oben benannte Verantwortung übernehmen zu können, sind Kompetenzen notwendig, die weit über die Ansprüche des Industriezeitalters, das auf Basiswissen, Normen und Disziplin fokussierte, hinausgehen. Grundlegend wird meiner Meinung nach sein, das Verständnis des Lernens als lebenslangen Prozess zu etablieren. Ein "Auslernen", dokumentiert und attestiert, wie bisher mit einem Abschluss, ist kein nachhaltiges Ziel und verfehlt das Verständnis von Bildung im 21. Jahrhundert.

Es kommt darauf an, Lernende zu befähigen, Lernen als immer unabgeschlossenen Wissens- und Kompetenzzuwachs zu verstehen. Die intrinsische motivierte Neugierde sollte “Schule” entfachen. Dies ist nur möglich, wenn man sich vom bisherigen Fokus auf abgeschlossene und abprüfbare Wissensbestände löst und Bildung verstärkt auf Zusammenhänge, neue referentielle Verfahren und gemeinschaftliches Arbeiten ausrichtet (vgl. Stalder, 2016).

Als weiteres Beispiel sei in dem Zusammenhang wieder auf die 4K verwiesen (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken) verwiesen, ein Modell des Lernens, das in den letzten 10 Jahren eine große Verbreitung und Zustimmung im Bildungsbereich erreichte und das Grundverständnis von Bildung in der gegenwärtigen Zeit der digitalen Transformation widerspiegelt.

Schule und Schulentwicklung

Auf Grund der fehlenden Digitalisierungsprozesse im Schulkontext fehlt nicht nur die technische Basis für die Erprobung, Anwendung und Entwicklung von Lehr-Lernszenarien, die digitale Medien und Konzepte ein- und umsetzen.
Darüber hinaus hat das auch Auswirkungen auf das Verständnis der Wirkung dieser digitalen Medienwelt. Durch fehlende Erprobungsgelegenheiten im eigenen Unterricht kann sich kein Erfahrungswissen bei den Lehrenden zum Einsatz digitaler Medien aufbauen. Erfahrungswissen, das sich im Gegensatz zum systematischen Wissen in Schule oder Hochschule aus dem praktischen Handeln generiert, wäre in Bezug auf Einsatz der digitalen Medien in mehrer Hinsicht wichtig:

a. Anwendung erproben, Sicherheit im Umgang gewinnen
b. Anwendungsmöglichkeiten für den eigenen Fachbezug entwickeln
c. Auswirkungen des Einsatzes auf didaktische Strukturen erkennen und Unterricht weiterentwickeln

Bei fehlenden Voraussetzungen ist es trotz allem oder gerade deshalb (?) wichtig, die strukturellen Veränderungen vorausschauend und zukunftsorientiert zu planen, Konzepte zu entwerfen und Inhalte anzupassen.

Unterrichtsentwicklung als Basis

Für die Integration von digitalen Medien im Unterrichtskontext wurden und werden verschiedene didaktische Modelle entwickelt, diskutiert und kritisiert.
Breiten Konsens findet das TPCK-Modell, das unter Einbeziehung des Dagstuhl-Dreiecks von Döbeli Honegger zum DPCK-Modell erweitert wurde (vgl. Döbeli Honegger, 2021).

Unterrichtsentwicklung als Aufgabe zu sehen, die neben der alltäglichen Gestaltung der zu haltenden Stunden vorangetrieben werden muss, fällt vielen Lehrer*innen schwer, denn:
Die Verfügbarkeit digitaler Medien wirkt sich zunächst nur marginal auf didaktische Konzepte, auf die Arbeit in Bildungseinrichtungen und das Verhalten von Lehrenden und Lernenden aus (Kerres, 2020).
Dabei steht mit der Weiterentwicklung von unterrichtlichen Konzepten in einer Kultur der Digitalität eine sehr wichtige Aufgabe auf der Agenda von Schule und Schulpolitik, die dringend Kapazitäten und Ressourcen (z.B. Zeit, Freiraum und Finanzen) braucht.

Um Unterricht und damit unmittelbar zusammenhängend auch Schule weiterzuentwickeln, sind meiner Meinung nach drei Sichtweisen aus schulischer Perspektive nicht nur zu beachten, sondern zu harmonisieren.
Dabei gilt es die drei Perspektiven von

Dagstuhl-Dreieck

Wie funktioniert das? (technologische Perspektive)
Wie wirkt das? (gesellschaftlich-kulturelle Perspektive)
Wie nutze ich das? (anwendungsorientierte Perspektive) und

DPCK-Modell

pädagogische Kompetenz
inhaltliche Kompetenz
Digitalisierungskompetenz

aus Schulentwicklungsperspektive zusammenzuführen.

1. Digitalisierung als technischer Aspekt (technologische Ausstattung der Schule und ihrer Beteiligten)

2.Digitale Transformation als struktureller Prozess (Abläufe der Schulorganisation)

3. Digitalität nicht nur als kultureller Lebensweltbezug, sondern als permanent zu entwickelnde Vision der Unterrichts- und Schulentwicklung (Ausgestaltung der Schul- und Unterrichtsprozesse als Commons)

1. Digitalisierung als technischer Aspekt

Ohne technische Voraussetzungen können keine digitalen Medien eingesetzt werden, kann digitales Arbeiten nicht zur Selbstverständlichkeit werden. Über diese Voraussetzungen sollten wir nicht mehr diskutieren müssen. Leider ist das noch immer nicht Realität.
Lernende und Lehrende benötigen technische Geräte und Zugänge zur Teilhabe. Um Schüler:innen auf die zukünftige Verantwortung (s.o.) vorzubereiten, müssen sich die Lehrenden die entsprechenden Kompetenzen in Studium und Referendariat und dann fortwährend in ihrer beruflichen Tätigkeit erwerben können. (Stichwort: lebenslanges Lernen)
Aber dieses (hoffentlich nur noch kurze) Fehlen der technischen Basis sollte nicht zum Abwarten im Hinblick auf eine Weiterentwicklung von Unterricht und Schule führen. Denn schon für die Auswahl von Ausstattungskomponenten bildet das Verständnis für die mit der Digitalität einhergehenden didaktischen Veränderungen eine wichtige Grundlage.

2. Digitale Transformation als struktureller Prozess

Die Möglichkeiten, die digitization bereitgestellt hat und die immer noch im technischen Bereich entwickelt werden, haben dazu geführt, dass Arbeitsprozesse digitalisiert wurden.
Materialien suchen, verwalten, speichern, bearbeiten, ... sind dabei die einfachsten und offensichtliche Abläufe, die sich mittlerweile digital vollziehen. Digitalisierung führt zur Umgestaltung nicht nur einzelner Arbeitsschritte, sondern im Sinn der digitalen Transformation zu einem strategischen Wandel der Organisation.
Jedoch mangelt es bisher am strategischen Weitblick. Noch zu sehr sind diejenigen, die für die Weiterentwicklung des Bildungssystem verantwortlich zeichnen, zu sehr im Denken in den alten Mustern einer Pädagogik des 20. Jahrhunderts gefangen. Doch aus dieser Haltung werden auf Grund von falschen Prioritäten dringend notwendige Veränderungen be- und verhindert. Es ist an der Zeit, die vielen Ideen und Konzepte endlich aus den zeitlich begrenzteren Projekten und Pilotierungsphasen zu holen und in die Breite zu bringen.
Dies bedeutet, die bisherige Struktur von Bildung zu hinterfragen - vom großen Aspekt (Föderalismus) bis hin zu den “kleineren”, aber nicht unwichtigeren Aspekten (z.B. Fächerstruktur, Klasseneinteilung).

3. Digitalität als kultureller Zustand der permanenten Veränderung

Digitalität muss als “nicht nur eine quantitative Veränderung, sondern vor allem auch eine qualitative” verstanden werden (Stalder, 2016, loc. 1482).
Digitalisierung liefert die technische Basis.
Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten eröffnen Chancen, ein “New Learning” zu etablieren. Dafür notwendig ist nicht nur ein Anerkennen der Veränderungen, sondern ein Anwenden der neuen kulturellen Praktiken. Bedeutung und Wichtigkeit des New Learning sind im Hagener Manifest genauer erläutert: Hier der Link zu Thesen, Inhalt und Unterzeichnern.

Ein einfaches Ersetzen analoger Prozesse in digitale ist kein Transformationsprozess. Im Gegenteil, ein solches Handeln verstärkt bereits überholte Arbeitsabläufe und verzögert Veränderungsprozessen.
Arbeiten und Lernen haben sich in der Digitalität verändert.
Workflows sind synchron und asynchron, kollaborativ und vernetzt. Workflows meint dabei besonders Lernprozesse, die sich nicht “allein im stillen Kämmerlein” als Auswendiglernen vollziehen, sondern die ko-konstruktiven und ko-kreativen Phasen in der Auseinandersetzung mit anderen Lernenden.
Dem konnektivistischen Aspekt beim Lernen muss mehr Bedeutung eingeräumt werden, denn

“Connectivism is driven by the understanding that decisions are based on rapidly altering foundations. New information is continually being acquired. The ability to draw distinctions between important and unimportant information is vital. The ability to recognize when new information alters the landscape based on decisions made yesterday is also critical.” (Siemens, 2006, S.4)

Fazit: Allein lässt sich nicht mehr arbeiten. Netzwerke sind die neue Teamarbeitsqualität - orts- und zeitunabhängig arbeiten, anpassbar und agil.

“Je stärker die Welt vernetzt, komplex und kollaborativ wird, desto notwendiger wird es, Fragen, Problem, Aufgaben und Herausforderungen mit einem interdisziplinären Ansatz anzugehen.” (Fadel et al., 2015, loc. 1852)

Dieses Arbeiten muss sich in den Lernprozessen widerspiegeln, muss die DNA des Lernens sein.
Denn das ist die natürliche Art des Lernens.
Dazu noch einmal Siemens:

“Chaos is a new reality for knowledge workers. … Unlike constructivism, which states that learners attempt to foster understanding by meaning making tasks, chaos states that the meaning exists – the learner's challenge is to recognize the patterns which appear to be hidden. Meaning-making and forming connections between specialized communities are important activities.” (Siemens, 2006, S.3)

Unterrichts- und Schulentwicklung können digitalisiert werden.
Schule und Bildung als institutionelle Strukturen können und müssen transformiert werden, um als Minimalziel - zeitgemäße Bildung für Lernende zu ermöglichen.
Jedoch sollte Bildung über ein “zeitgemäß” hinauszielen. Bildung muss zukunftsorientiert, zukunftsweisend sein.
Damit Bildungsprozesse den veränderten kulturellen Praktiken in einer Kultur der Digitalität Rechnung tragen, muss ein Arbeiten in der Digitalität eine Selbstverständlichkeit werden - sowohl für Lernende als auch für Lehrende.

Literatur:

Bloomberg, J. (2018).Digitization, Digitalization, And Digital Transformation: Confuse Them At Your Peril. Zugriff am 26.06.2021 unter https://moniquebabin.com/wp-content/uploads/articulate_uploads/Going-Digital4/story_content/external_files/Digitization%20Digitalization%20and%20Digital%20Transformation%20Confusion.pdf

Döbeli Honegger, B. (2021).DPCK stat TPCK. Zugriff am 26.06.2021 unter http://blog.doebe.li/Blog/DPCKstattTPCK

Fadel, Ch., Bialik, M. & Trilling, B. (2015). Die 4 Dimensionen der Bildung. Hamburg: ZLL21.

Gesellschaft für Digitale Bildung https://www.gfdb.de/didaktik-tpack-modell

Kerres, M. (2020).Bildung in der digitalen Welt: Über Wirkungsannahmen und die soziale Konstruktion des Digitalen. Zeitschrift MedienPädagogik 17 (Jahrbuch Medienpädagogik), 1–32. https://doi.org/10.21240/mpaed/jb17/2020.04.24.X.

Marres, N. (2017).Digitale Society. The Reinvention of Social Research._ Cambridge: Polity Press

Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (2018). Zugriff am 26.06.2021 unter https://mb.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Landesjournal/Bildung_und_Wissenschaft/Gesetze/Schulgesetz.pdf

Siemens, G. (2006). Knowing Knowledge Zugriff am 14.06.2020 unter https://archive.org/details/KnowingKnowledge

Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.