Ergänzung zu #distancelearning
18.05.2020 9 Minuten LesezeitBei den angegebenen Links handelt es sich um externe Links.
Beim folgenden Beitrag handelt es sich um einen Gastbeitrag für den mdr als Reaktion auf einen Blogbeitrag von Tobias Thiel, der gleich zu Beginn des Textes verlinkt ist. Ich habe meine Ausführungen hier noch um einige konkrete Hinweise ergänzt, weil ich weiß, dass viele Lehrkräften auf der Suche nach Tipps, Links und exakten Hilfen sind. Trotz allem können die Angaben immer nur als Ratschlag verstanden werden und müssen an die jeweilige konkrete Situation angepasst werden. Da auch Vorgaben der Bundesländer oder schon vorhandene Werkzeuge an den Schulen berücksichtigt werden müssen, habe ich auf Links verzichtet und die Tools nur benannt.
Dass Lernen auf absehbare Zeit nicht mehr wie bisher ablaufen wird, sollte jedem klar sein. Schüler:innen, Eltern und Lehrkräfte kämpfen sich durch die durch COVID19 verursachten Krisensituation.
Tobias Thiel hat in seinem Blogbeitrag sehr eindrücklich die Elternsicht geschildert. Es wird aber auch ersichtlich, wie Schüler:innen und Lehr:innen mit der Situation umgehen. Der Blogbeitrag gibt zwar nur einen kleinen, dafür aber sehr konkreten Blick in den Alltag von Familien mit schulpflichtigen Kindern.
Daran lassen sich einige strukturelle Probleme im Bildungsbereich erkennen, die durch die Krisensituation deutlicher als bisher sichtbar werden. Ich bin sehr skeptisch, ob sich diese Probleme mit der stufenweisen Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts verbessern. Denn erfolgreiches Lernen geht nur, wenn alle Beteiligten - Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen - einbezogen werden und gemeinsam diesen Prozess gestalten.
Distanzlernen hinterfragt Schule
Den gewohnten, den alten Unterricht wird auch die langsame und stufenweise Aufhebung der Lockerungsmaßnahmen nicht wiederbringen. In der Zeit des Distanzlernens wird die Rolle von Schule und Lernen hinterfragt. Es wird klar: Lernen ist nicht allein an Schule gebunden. Schule ist nur die bisher im gesellschaftlichen Konsens gefundene organisatorische Form des Lernens.
Jetzt spüren Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern deutlich, dass Lernen ein sehr individueller Prozess ist, der vor allem intrinsische Motivation braucht. Sie muss geweckt und unterstützt werden. Und das ist sehr stark von der Beziehungsarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden abhängig.
In der Handreichung des Landesinstituts für Schulqualität und Lehrerfortbildung (LISA vom 30.04.2020) werden Anregungen und Hinweise bei Wiederaufnahme des Schulbetriebes gegeben. Dort steht: “Entscheidend ist eine sinnvoll geplante Verknüpfung beider Phasen (Distanz- und Präsenzlernen) durch die Bereitstellung von Materialien, Medien, Arbeitsaufträgen oder Lernarrangements.”
Diese Verknüpfung von Distanz- und Präsenzlernen ist derzeit die große Herausforderung für Lehrende. Denn sie trifft die meisten unvorbereitet. Bis jetzt war das Lernen in der Schule immer als Präsenzveranstaltung mit altbekannten und festgeschriebenen Rollenverständnissen verbunden: Kontrolle, Vermittlung und Überprüfung waren selbstverständlich für Lehrer:innen.
Lernen und Lehren in der Digitalität
Durch das krisenbedingte Distanzlernen sind viele dieser etablierten und am Lehrer orientierten Organisationsformen von Lernprozessen nicht mehr möglich. Es müssen nicht nur einfach neue Wege gefunden werden, analoges Lernen und damit verbundene bisherige Abläufe zu digitalisieren, sondern es kommt darauf an, die Neuartigkeit des Lehrens und Lernens unter den Bedingungen der Digitalität zu verstehen, zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Es ist aber andererseits auch nicht mit der “Bereitstellung von Materialien, Medien, Arbeitsaufträgen” getan.
Alles gehört auf den Prüfstand
Distanzlernen und auch Blended Learning, die Kombination von Distanz- und Präsenzphasen, verändert Lehren und Lernen. Beziehungsarbeit rückt in den Vordergrund, Begleitung und Motivation erhalten einen höheren Stellenwert. Demgegenüber nehmen die Wichtigkeit von Noten, Bewertung und Prüfungen ab. Auch das einfache Ausfüllen von Arbeitsblättern ist zu hinterfragen.
Blended Learning erfordert eine andere didaktische Gliederung als bisher üblich. Lehr-Lernprozesse müssen zeitlich gestreckt und Input in kleineren Portionen vorbereitet werden. Auch Feedbackschleifen müssen eingeplant werden.
Der Schwerpunkt der Lehr- und Lernprozesse muss auf natürlich altersgerecht angepassten langfristigen und komplexen Arbeitsaufträge (am besten fächerübergreifend) liegen, die Schüler:innen zu kreativen und bestenfalls auch kollaborativen Lösungen führen. Und selbst der Unterrichtsbeginn und die Zeitstrukturen von Schule werden womöglich anders gestaltet werden müssen, wie bereits jetzt die Lernorte krisenbedingt flexibler gestaltet werden und nicht mehr nur auf die Klassenräume beschränkt sind.
Um etwas konkretere Aussagen und Ideen zur Umsetzung der o.g. Handreichungen zu liefern, habe ich einzelne Punkte in der Organisation von Lehr-Lernprozessen herausgegriffen:
- Aufgabenstellungen/Lernarrangement
- Erarbeitung
- Präsentation
- blended learning
- Kommunikation
Neben kurzen Erläuterungen finden sich einige Tool-Tipps.
Für den Einsatz von digitalen Plattformen und Tools muss sich jede Lehrkraft informieren, was konkret in ihrem Bundesland und an ihrer Schule einsetzbar ist bzw. schon verwendet wird.
Aufgabenstellungen können digital abrufbar auf der schulischen oder lehrerbasierten Lernplattform zur Verfügung gestellt werden - verbunden mit einem Pool an nutzbaren Materialien und weitergehenden Vorschlägen.
In dieser Phase der Aufgabenerfassung und -eingrenzung durch die Schüler:innen sollten Lehrkräfte für Beratung und Rückfragen zur Verfügung stehen. Dazu bieten sich neben dem persönlichen Telefonat zahlreiche Video- und Audiokonferenz-Tools an. Sprechzeiten für Rückfragen sollten angeboten werden.
Die Lernarrangements, die durch die Lehrkräfte gestaltet werden sollen, müssen die Schüler:innen bei ihrem zum großen Teil selbstgesteuerten Lernprozess unterstützen. Dabei muss, wie schon in der oben angeführten Handreichung des LISA zu lesen, auf Verständlichkeit der Aufgabenstellungen und angemessenen Aufgabenumfang geachtet und die individuellen Lernvoraussetzungen sowie häusliche (auch digitale) Arbeitsbedingungen berücksichtigt werden.
Dies kann zum Beispiel folgendermaßen ausgestaltet werden:
Untergliederung der Aufgabenstellung in Unteraufgaben, um Ablauf bzw. Schrittfolge als Hilfestellung für Schüler:innen zu geben und den Lernprozess zeitlich flexibel zu gestalten
Aufgabenstellung immer mit Möglichkeit des Nachfragens (z. B. Chat, VK)
Teilaufgaben für unterschiedliche Anforderungsbereiche und Wahlmöglichkeiten
Teilaufgaben für unterschiedliche Lösungswege (analog/digital)
diverse Formate der Aufgabenpräsentation (schriftlich, Erklärvideo, Audiodatei, Sketchnote)
Tools:
moodle
CodiMD
cloudschool
jitsi
discord
HPI Schulcloud
MSTeams for Education
Signal
delta chat
Für die Bearbeitung der Aufgabe sollte ausreichend Zeit eingeplant und auch kreative Umsetzungen und Lösungen zugelassen werden. Fällt in diese Bearbeitzungszeit eine Phase des Präsenzlernens, so sollte hier der Freiraum für Peer-Feedback und formative Assessment eingeplant werden. Darüber hinaus kann diese Präsenzzeit auch zur kollaborativen Arbeit genutzt werden.
Tools:
oncoo
mentimeter
Kommentarfunktion im LMS
etherpads
padlet
Zur Präsentation der Arbeitsergebnisse bieten beide Phasen Gelegenheit. Sowohl eine digital zur Verfügung gestellte Präsentation im Vorfeld der Präsenzzeit als auch die Vor-Ort-gehaltene Präsentation sind möglich.
Da im Sinne der KMK-Strategie “Bildung in der digitalen Welt” der Fokus nicht nur auf das Präsentieren, sondern auch auf das Produzieren gelegt wird, sollte die Aufgabenstellung die Erstellung eines Lernprodukts umfassen, dass den Mitschüler:innen digital präsentiert und zur Verfügung gestellt werden kann.
Tools:
reveal.js
CodiMD
adobe spark
powerpoint
keynote
In allen Phasen des blended-learning-Prozesses ist es wichtig, den Lernenden Feedback zu geben und sie auf dem Lernweg unterstützend zu begleiten.
Kompetenzen werden im Verlauf dieses Lernprozesses erworben und gefestigt.
Um diese sichtbar zu machen und das Lernen nachhaltiger zu gestalten, ist es wichtig, Reflexionsgelegenheiten zu schaffen. Der Prozess des formativen Assessments und auch das Feedback in den Reflexionsprozess lässt sich gut mit dem Einsatz eines ePortfolio unterstützen.
So lassen sich nicht nur Lernprodukte und der Weg ihrer Erstellung dokumentieren, sondern es wird ein Platz geboten, an dem (Peer-)Feedback eingeholt, gegeben und verarbeitet werden kann.
Die ePortfolio-Arbeit stellt eine zeitgemäße Methode dar, Kompetenzerwerb zu unterstützen, nachhaltig und reflexiv zu verankern und auch um Leistungen zu präsentieren. Die digitale Form eines Portfolios ermöglicht für blended-learning-Arrangements zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten: die Artefakte stehen immer zur Weiterbearbeitung, zum Teilen oder Feedback-einholen und auch zur Präsentation zur Verfügung.
Auch für Lehrende ist es einfacher anhand des ePortfolios individuelles Feedback zu geben und den Lernprozess nachzuvollziehen und zu bewerten (nicht unbedingt zu benoten).
Hier liegt das Potential für eine andere Art der Bewertung - ohne Noten, individuell, kompetenzorientiert, auf den Lernfortschritt ausgerichtet.
Tools:
mahara (Porfolio für moodle)
CodiMD
Blog (z. B. wordpress)
Google Site
Der oft, auch in der Empfehlung des LISA, als Beispiel angeführte Flipped Classroom (oder ICM) ist ein Unterrichtsszenario, das unter den Bedingungen des “normalen” Präsenzunterrichts gut funktioniert hat, wie zahlreiche Beispiele bisher gezeigt haben. Es besonders auf die langjährigen Erfahrungen von Sebastian Schmidt verwiesen.
Allerdings herrschen jetzt andere Bedingungen und die für den flipped classroom entscheidende und regelmäßig stattfindende Phase des Präsenzlernens ist nun stark eingeschränkt. Hier muss eine Anpassung des eigentlichen Konzepts vorgenommen werden. Denn Arbeiten in Gruppen, Peer-to-Peer-Feedback oder auch individuelle Unterstützung durch die Lehrperson sind jetzt mit Abstandsregeln und Einhaltung von Hygienestandards schwer umzusetzen. Auch werden die Abstände zwischen den Präsenzphasen noch sehr groß sein und entsprechend muss das Verhältnis der beiden Phasen anders gestaltet werden.
Der wichtigste Aspekt, unabhängig von Distanz- oder Präsenzphase, ist die Beziehungsarbeit - die Kommunikation, denn Lernen ist immer Beziehungshandeln. Und dies muss in erster Linie auf einer sehr persönlichen, individuellen Ebene stattfinden. Hierfür lassen sich hervorragend digitale Tools nutzen - zum Beispiel um individuelle Beratungen in Form von Sprechstunden anzubieten.
Lehrer:innen können so für jeden flexibel erreichbar sein und als Ansprechpartner fungieren. In diesem Zusammenhang ist auch die Kommunikation mit den Eltern zu sehen, die in den Distanzphasen Organisation, Struktur und Motivation unterstützen sollen.
Hier ist eine enge und vertrauensvolle Kommunikation zwischen Lehrkräften und Eltern notwendig. So könnten auch “Elternversammlungen” online durchgeführt werden.
Ein Beispiel, wie dies erfolgreich umgesetzt wurde, hat hier Björn Nölte beschrieben.
Es geht darum, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Fürsorge zu schaffen und die dialogische Struktur des Lernens auch ohne Präsenz aufrechtzuerhalten. Eine Kommunikationskultur - intern wie extern - muss etabliert werden, in der sich Beteiligte gehört fühlen und die Möglichkeit zum feedback haben. Diese Mehrwege-Kommunikation lässt sich im mit digitalen Werkzeuge gut realisieren!