Hybridität
17.07.2020 4 Minuten LesezeitHybridität von Lernen und Schule?
Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet ist.
("Migration führt zu 'hybrider' Gesellschaft. Homi K. Bhabha im Interview mit Lukas Wieselberg, in: ORF Science, 09.11.20079)
Ausgehend von diesem Verständnis von Hybridisierung, das sich auf kulturelle Hybridität bezieht, möchte ich versuchen, dieses Konzept auf Bildung und Unterrichtskonzeption zu übertragen.
Hybridisierung als Prozess - Hybridität als Zustand
Die COVID19-Pandemie hat Bildung für einen gewissen Zeitraum vor die neue Realität des sogenannten Fernunterrichts gestellt. Schulschließungen führten zur abrupten Einstellung des Präsenzunterrichts. Distanzlernen war die neue Unterrichtsform - ohne Vorbereitung für alle. Weder Schüler:innen noch Lehrer:innen hatten Erfahrungen und konnte sich darauf angemessen einstellen.
In der Phase des sogenannten Hybridunterrichts gab und gibt es ein Nebeneinander von Präsenztagen in der Schule und Lernen, das zu Hause geleistet werden soll.
Auch das neue Schuljahr wird in dieser Teilung gedacht. Was fehlt, ist die "strategische und selektive" Vermischung von Präsenz- und Distanzlernen.
Das liegt meiner Meinung nach daran, dass man die Bedeutung von Schule und Unterricht noch nach den herkömmlichen Kriterien und mit dem Verständnis des auf Anwesenheit basierenden Lernens definiert.
Seit den Anfängen der schulischen Bildung wurde Lernen auf den Lehr-Lernprozess im Klassenraum und den selbstständigen Lernprozess zu Hause aufgeteilt. Es gab und gibt den von der Lehrperson geplanten, strukturierten Unterricht und die von der Lehrperson erteilten Hausaufgaben, die die Schüler:innen zu Hause allein abarbeiten.
Diese beiden Aspekte wurden als getrennte Bestandteile eines Lehr-Lernprozesses betrachtet, die sich ergänzten, aber selten vermischten.
Hybridität geht über einfaches Abwechseln und Neuanordnen der Teilbereiche hinaus.
Ähnlich dem Remixen in der Musik entsteht durch die Neuabmischung eine neue Version. Basis sind und bleiben die verschiedenen "Spuren", die neu variiert oder auch mit anderen Elementen angereichert werden können. Ergebnis ist eine Weiterentwicklung der bestehenden Elemente.
Der im Eingangszitat erwähnte neue „Raum ... für Handelnde“ kann durch eine Verschmelzung von analogen und digitalen Konzepten erschaffen werden, wenn dieser Prozess mit einem Verständnis der Kultur der Digitalität (vgl. Stalder 2016) einhergeht.
Der Prozess der Hybridisierung sollte jetzt ablaufen, verstärkt durch die Corona-Krise, durch die deutlich wurde, wie eng analoge und digitale Welt bereits verzahnt sind, aber auch wie heterogen diese Verzahnung aussieht - bezüglich Hardware, Methoden, Verständnis, Kompetenzen und Haltung.
Der Prozess muss begleitet und reflektiert werden. Für die einzelnen Akteure (Schulen, Lehrer:innen) kann es keine allgemeingültigen Vorgaben geben, da die Bedingungen und Voraussetzungen zu unterschiedlich sind.
Die Ergebnisse werden ebenfalls eine Vielfalt von Möglichkeiten zeigen, die der Heterogenität der Bildungslandschaft des 21. Jahrhunderts entsprechen. Nichts wird sich in einzelne wenige Formen pressen lassen und nichts wird unverändert bleiben. Hybridisierung ist ein fortlaufender und sich immer neu gestaltender Prozess.
Bhabha beschreibt in seinem Buch „Die Verortung der Kultur“ (1994) die problematischen Effekte, die beim Aufeinandertreffen mehrerer Kulturen entstehen. Wie beim Beispiel der Kulturen versucht die Gutenberg-Galaxis mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sich als „Leitkultur“ darzustellen. Sie versteht sich, um im Bild von Bhabha zu bleiben, als territoriale Macht mit Heimrecht. Das Digitale wird als Eindringling begriffen, der sich unterzuordnen hat. Gleichzeitig suggeriert die Bezeichnung der analogen Welt der Gutenberg-Galaxis als Leitkultur eine Diversität und Offenheit, die so nicht stimmt. Man lässt das digitale Element zu, aber weist ihm eine untergeordnete Rolle zu.
Für Bildung ist diese Haltung fatal. Digitalität ist kein neuer, kleiner Bestandteil, der sich dem Leitmedium des Buches unterordnen kann. Algorithmizität, Referenzialität und Gemeinschaftlichkeit durchziehen alle Bereiche der Gesellschaft, auch die Bildung, die im Sinne des Bildungs- und Erziehungsauftrags eine besondere Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen besitzt und deshalb eine aktive und zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit Erstellung, Nutzung und Teilen digitaler Medien ermöglichen muss.
Im Prozess der Entwicklung und des Aushandelns muss die Vorstellung der territorialen Hegemonie überwunden werden.
Denn sowohl Multikulturalität als auch der vermeintliche Widerspruch zwischen analog und digital lassen sich nicht mehr geographisch oder institutionell verorten. Bhabha wählt die Methapher des „verknoteten Subjekts“, um deutlich zu machen, dass Prozesse der Hybridisierung sich in die Personen verlagert haben. Die individuellen Prozesse und die Heterogenität in allen gesellschaftlichen Bereichen lassen sich nicht ignorieren und auch nicht immer bündeln.
Lernen wird unter den Bedingungen der Digitalität selbstverständlich eine Hybridisierung analoger und digitaler Elemente leisten müssen. Soll dies erfolgreich geschehen, muss dieser Prozess über eine Aufteilung der analogen und digitalen Elemente im Sinne einer Zuordnung zu Orten (Schule = analog, Distanzlernen = digital; Unterricht = Präsenz = analog, Hausaufgaben = Distanz = digital) hinausgehen.
Der neu zu kreierende Raum, in dem analog und digital gemeinsam, sich gegenseitig stützend und ergänzend, stattfindet , muss die Grundlage für Unterrichtskonzeption und Schulentwicklung sein und das neue, zukunftsweisende Verständnis von Bildung umsetzen.
Literatur:
Bhabha, H. (2000). Die Verortung der Kultur. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen (Stauffenburg Discussion) Tübingen: Stauffenburg.
Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.