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Wer sucht, muss reflektieren

4 Minuten Lesezeit

Gerhard Brandhofers Standardantwort Nr. 2: Wir wissen nur ansatzweise, wie Unterricht unter den Bedingungen der Digitalität aussehen wird, führt mich zu 3 Schlussfolgerungen.

Nichts ist in Zeiten der digitalen Transformation so sicher wie die Ungewissheit. Diese löst natürlicherweise Unsicherheit aus. Um beim Brandhofers Bild vom Lauf durch das Flussbett zu bleiben, bilden sich 3 Personengruppen.

  1. Einige bleiben am Ufer der Gutenberg-Galaxis stehen. Gründe dafür gibt es viele - Angst, Desinteresse, Überforderung, aber auch eine Haltung des Abwartens und Beobachters, des Abwägens. Diese Gruppe zeichnet eine pessimistische Grundhaltung gegenüber Neuem und Veränderungen aus. Sie haben aber gleichzeitig eine sehr wichtige Aufgabe für die Entwicklung - sie sind in vielen Fällen das notwendige Korrektiv, das Fehlentwicklungen aufzeigt, vielleicht sogar verhindert.
  2. Viele machen sich auf den Weg und wollen die Überquerung wagen - Motto: auf zu neuen Ufern. Man ist wagemutig, motiviert und optimistisch. Allein - dies reicht nicht aus. Beide Ufer sind weit voneinander entfernt, außer Sichtweite. Eine Richtung lässt sich nur abschätzen. Nicht nur, dass man die Richtung verlieren kann, nein, man kann auch die kleinen Erhöhungen im Flussbett schon fälschlicherweise als Ziel ausmachen und eine Ankunft in der Turing-Galaxis ausrufen - mit neuen Konzepten und Modellen, die aber bei genauerer Analyse unter den Bedingungen der Praxis nicht standhalten.
  3. Einige Visionäre sehen das Ufer oder vielleicht glauben sie auch nur es zu sehen. Sie versorgen die Laufenden/Suchenden mit Zielvorstellungen, mit Lösungsvorschlägen, aber auch mit Kritik des Erreichten.

Alle 3 Gruppen sind unabdingbar. Das Sich-auf-den-Weg-machen ist genau so wichtig, wie die kritischen und die visionären Stimmen, die Orientierung geben oder zur kritischen Betrachtung auffordern.
Aber was bedeutet das für Unterricht, für Schule, für Bildung?

1. Theorie-Praxis-Vernetzung

Wir brauchen ein anderes Verständnis der Entwicklung von Unterrichtsmodellen - wir brauchen einen agil-reflektierten Unterricht.
Modelle, neue Ansätze von Lehren und Lernen unter den Bedingungen der Digitalität müssen ständig entwickelt und angepasst werden. Sie müssen aber auch immanent reflektiert werden. Der Prozess eines "formative assessment", wie er für Unterricht oft gefordert wird, muss auch für die Entwicklung von neuen didaktischen Konzepten gelten. Und hier hilft nur eine engere Vernetzung von Theorie und Praxis.

2. Agil Reflektieren

Reflexion und Evaluation sind notwendig - haben einen großen Stellenwert für die konzeptionelle Entwicklung einer neuen Lernkultur. Aber bitte praxisbegleitend, mit schnellen Möglichkeiten des Eingreifens und Reagierens. Also agiles Vorgehen auch in diesem Prozess.
Studium und Unterricht müssen als Einheit gesehen werden und das vorhandene Potential ausgeschöpft werden. Die theoretischen (hoffentlich visionären) Kenntnisse und Vorstellungen, die an Universitäten und Hochschulen diskutiert und entwickelt werden, müssen praktisch erprobt werden. Was ist machbar, umsetzbar, erfolgreich?
Rückmeldungen aus der Unterrichtspraxis zeigen dann sehr schnell - um wieder das Bild der Flussüberquerung aufzugreifen - ob die Richtung stimmt. Studierende, fachdidaktisch begleitet, also auch die Hochschullehrenden des Lehramtsstudiums, sollten verstärkt den Kontakt zu Schulen und Studienseminare suchen und aufbauen. Hier brauchen wir mehr Kommunikation und Kollaboration. Dies soll zum kritischen Hinterfragen des Ist-Zustandes in Schule und zur Erprobung der an Hochschulen entwickelten Modellen führen. Gemeinsam sollen diese reflektiert, nach Bedarf weiterentwickelt, implementiert oder auch verworfen werden. So kann der Wissenstransfer aus Theorie schnell in Praxis überführt werden.

3. Optimistische Visionen als Orientierungshilfe

Visionen sind als leitende Vorstellungen von grundlegender Bedeutung, sie sind der Kompass auf dem Weg in die Turing-Galaxis.
In Abwandlung von Ernst Fromm:

Wenn Bildung keine Vision hat, nach der man sich sehnt, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.

Wir brauchen motivierende Ideen und Leitbilder.
Wir brauchen auch eine positive Einstellung zur Kritik an ihnen.
Die Richtung muss immer wieder nachjustiert werden. Dabei werden Fehler als Entwicklungsschritte erkannt - Lernen und Entwicklung sind an Fehler gebunden. Die von Brandhofer im vorletzten Absatz aufgeführten Beispiele (Flipped Classroom, Audio Response Systeme, ...) für "das digitale Mäntelchen, das dem traditionellen Unterrichtsschema umgehängt wird, ohne systematische Änderungen voranzutreiben", sind auf dem Weg zum Ufer der Turing-Galxis notwendige Schritte. Sie markieren eine erreichte Wegstrecke Richtung des neuen Ufers. Solange allen bewusst ist, dass hier die Entwicklung nicht stehenbleiben darf, sehe ich darin keinen Fehler.
Die systemischen Veränderungen lassen sich nicht aufhalten. Sie sind Prozess, Umstrukturierung, Ausformung - und dies erfordert Schritte.
Schritte, die durch eine Reflexion eine Bestätigung oder Korrektur der Laufrichtung erfahren - wichtig ist das Weitergehen, mit einer Vision als Zielvorstellung und Motivation.

Ohne Frage wird Bildung in einer digitalisierten Welt nicht mehr Schulen im Sinne unserer heutigen Vorstellung benötigen. Die Vision von zeit- und ortsunabhängigem Lernen, von Schulen (wenn man diesen Begriff dann noch verwenden kann) als Lernorte ohne feste Klassen-, Fächer- und Stundenstruktur wird sicher (hoffentlich) schneller eintreten, als wir heute denken.
Alle an Bildung Beteiligten müssen auf diesem Weg mitgenommen werden. Dies geht nur über Beteiligung, Wertschätzung und Kommunikation.
Und das zielgerichtete Gehen funktioniert nur mit immer wieder am Kompass überprüfter Zielrichtung.

Agil, also von großer Beweglichkeit, kann man das Bildungssystem nicht beschreiben. Aber gerade dies ist unter den Bedingungen der Digitalität gefragt.
Nur wer schnell und reflektiert reagiert, wird erfolgreich Digitalien erreichen.
Deshalb also mehr Agilität wagen!